Textatelier
BLOG vom: 16.01.2007

Wesentliches wird übersehen: Der Gorilla bei Basketballern

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Alle Wahrnehmungen, soweit sie überhaupt stattgefunden haben, deuten darauf hin, dass unser Wahrnehmungsvermögen sehr eingeschränkt, ja geradezu beschränkt ist. Und weil nichts in den Verstand gelangt, was nicht vorher wahrgenommen wurde, wird sogleich klar, dass unsere Denktanks wegen der vielen Lücken und Lecks zu Fehlentscheidungen neigen und führen. Die Folgen sind allgemein bekannt, soweit sie überhaupt wahrgenommen worden sind.
 
Ein bezeichnendes Beispiel schilderte Dr. Burkhard P. Varnholt in seinem „Ausblick auf die Finanzmärkte im Jahr 2007“, den er am Abend des 15. Januar 2007 bei der Neuen Aargauer Bank (NAB Aarau) im Kultur- und Kongresshaus Aarau gab. Er schilderte den Inhalt eines 30-Sekunden-Filmchens, in dem 2 Basketball-Mannschaften ihren Kampf um den Ball führten. Ganz im manichäischen Sinne war die eine Mannschaft in Schwarz, die andere aber in Weiss gekleidet. Die Zuschauer hatten nun die Aufgabe, zu zählen, wie oft der Ball von einem weissen zu einem anderen weissen Spieler wechselte. Das war nicht ganz einfach; doch die meisten Beobachter zählten richtig und kamen auf 15 Mal. Sie wurden dann befragt, ob ihnen noch anderes Bemerkenswertes aufgefallen sei. Sie äusserten sich intelligent zur Spielweise der einzelnen Mannschaften; aber sonst kam ihnen nichts mehr in den Sinn.
 
Wohl 1000 Leute, denen Varnholt das Filmchen vorgeführt hatte, übersahen, dass während etwa 15 Sekunden ein ausgewachsener Gorilla über das Spielfeld tappte, was doch eigentlich eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen wäre. So also lässt uns die Wahrnehmung im Stiche, wenn wir uns auf etwas Bestimmtes konzentrieren.
 
Der CS-Chefanalyst Varnholt ist ein glänzender Redner, ein systematischer Denker, der auch die psychologischen Einflüsse kennt. Er brachte das Basketball-Beispiel in den Zusammenhang mit der Globalisierung. Vor lauter Fokussierung auf das schnelle Geldverdienen wird glatt übersehen, dass diese Globalisierung wie ein monströser Gorilla in der Welt herumtappt. Mit anderen Worten: Die Globalisierung wird glatt übersehen, nicht zur Kenntnis genommen.
 
Genau so ist es, wie ich aufgrund meiner eigenen Wahrnehmung beipflichten kann. So kommt es ständig zu Gemeinde- und Unternehmensfusionen, zu Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen; selbst öffentliche Allgemeingüter wie das Wasser werden privatisiert und kommerzialisiert. Neben den Kommerzialisierungen gehören auch die Einebnungen im kulturellen Sektor dazu. Wir nehmen, wie ich beifügen möchte, seit rund 60 Jahren hin, dass die USA den gesamten Kulturbetrieb nicht nur in Europa, sondern auch auf der Welt unterwandern – ausgerechnet ein Land, das ohne Stil und ohne Gefühl ist und nur auf den grösstmöglichen Gewinn an Geld und Macht aus ist. Ursprünglich begann dieser Prozess mit Hilfe der CIA über den „Kongress für kulturelle Freiheit“. Dann waren die Medien so weit abgerichtet, dass sie selbsttätig als gedankenlose US-Propagandisten amteten, für mich wunderschön abzulesen am ewigen Frank-Sinatra-Kult von Radio DRS1, den hollywoodlastigen Kino-Programmen und der Übernahme von US-Schundformaten durch das einheimische Fernsehen.
 
Der Begriff Globalisierung bezeichnet nach meiner eigenen Definition weltweite Vereinheitlichung unter US-Oberherrschaft. Und kaum jemand merkt es, weil es neben den angepassten Medien überall sehr viele Leute gibt, die ebenfalls zu Propagandisten der US-Banalkultur werden, um dabei zu sein und um als innovativ zu gelten. Doch wenigstens innerhalb der globalisierten Finanzwelt wird die US-Rolle zunehmend unbedeutender, und bei geschärfter Wahrnehmungsfähigkeit dürfte dieser Prozess beschleunigt weitergehen. Es scheint, als ob Anlagen aus dem besonders intensiv deregulierten (zurückgebundene staatliche Lenkungen) Taiwan, ein Tiger- und nicht etwa ein Gorillastaat, bei den Anlegern heute mehr Aufmerksamkeit finden würde als die USA, auch wenn die Unabhängigkeitsfrage in Bezug auf die Insel Taiwan noch nicht definitiv entschieden ist.
 
Varnholt, um zu dessen Vortrag zurückzukehren, ist gewiss kein Globalisierungsgegner; er versucht, aus den vorhandenen Gegebenheiten das Beste zu machen, und für einen international tätigen Anlagespezialisten (CS-Leiter Financial Products & Invest Advisory) ist dies zweifellos richtig. Und wenn er dabei den umhertappenden Gorilla im Auge behält und dessen Verhaltensmuster richtig interpretiert – umso besser. Dabei liegt es mir selbstverständlich fern, die Gorillas dämonisieren und heruntermachen zu wollen, indem ich sie als Sinnbild für die Globalisierung hinstelle ...
 
Die kaum wahrgenommenen Globalisierungsvorgänge sind genau deshalb gefährlich, weil die wahren Triebkräfte und fundamentalen Vorgänge im Allgemeinen unbeachtet bleiben und sich unheimliche Nachahmungseffekte bilden. Wenn an den Börsen alle „Sell!“ schreien, verkaufen alle, und wenn (auch aufgrund von Missverständnissen) die Melodie auf „Buy!“ umgestellt wird, kaufen alle. Varnholt belegte diesen Nachahmungseffekt mit einer treffenden Karikatur, die vom Börsenalltag täglich bestätigt wird. Was sollen Kursprognosen unter solchen Voraussetzungen?
 
Andere Massenbewegungen folgen ebenfalls Modemustern. So wandern heute laut Varnholt täglich rund 1 Million Menschen vom Land in die Stadt; so entsteht also rein rechnerisch jeden Monat eine neue Stadt in der Grösse von Los Angeles. Für Anleger ergeben sich daraus Chancen im Infrastrukturbereich.
 
Und der Energiekonsum steigt, worüber der gerade zurückgefallene Erdölpreis nicht hinwegzutäuschen vermag. Der gesamte Weltbedarf an elektrischer Energie könnte laut Varnholt gedeckt werden, wenn 2,5 % der Sahara mit Solarzellen überdeckt würde. „Aber dafür gibt es nicht genug Silizium“, fügte er bei.
 
Und da stimmte etwas mit seiner eigenen Wahrnehmung nicht: Silizium ist nach dem Sauerstoff das zweithäufigste Element; die Erdkruste besteht zu etwa 25 % daraus. Im Gegensatz zum Mangel an Wahrnehmung wird es also niemals einen Siliziummangel geben.
 
Dennoch wäre die Überdachung riesiger Saharaflächen nicht eben das, was man den leidgeprüften Afrikanern auch noch zumuten möchte. Die aktuell weitergehende Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents (siehe Somalia) entzieht sich unserer Wahrnehmung ebenso wie die neoliberale Globalisierung.
 
Buchhinweis
Hess, Walter: Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“, Verlag Textatelier.com GmbH., CH-5023 Biberstein, ISBN 3-9523015-0-7.
 
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